Sie musste schon wieder auf ihn warten. Sie verstand nicht, warum er immer so lange brauchte – es dauerte ewig, bis er sich fertig gemacht hatte. Wieder schaute sie zu ihm hinüber. Er hatte gerade seinen Hut aufgesetzt. „Endlich!“, dachte sie, „Lass uns endlich gehen!“.
Sie wollte über die Wiese schlendern und ihre Füße ins Wasser tauchen. Das letzte Mal war schon eine Weile her und sie brauchte das Wasser dringend. Ihre Schwestern, die über die ganze Stadt verstreut lebten, hatten dieses Problem nicht. Sie alle hatten Wasser zur Hand, sie war die einzige, die dafür das Haus verlassen musste. Aber das Ewlein, daz Venedig (Venediger Au), wie die Wiener die Gegend nannten, war ein schöner Ort für ihr Zuhause. Und Wasser war schließlich ganz in der Nähe. Sie konnte sich unmöglich beschweren. Wenn er nur nicht immer so lange brauchen würde, um sich fertig zu machen! „Können wir endlich gehen?“, rief sie noch einmal, bevor sie aus dem Haus stürmte.
Die kühle Abendluft roch nach nassem Gras. Sie hörte das Plätschern eines Baches in der Nähe. Die Sonne ging unter und der Himmel hatte diesen eigenartigen Blauton. Die Dämmerung, fast Nacht, war erfüllt von einer Art melancholischer Hoffnung. Die perfekte Zeit für ein Bad im Bach.
Als Nixe musste sie regelmäßig in Wasser baden, sonst würde sie alsbald vergehen. Warum nur hatte sie diesen Menschen so sehr liebgewonnen, dass sie das Wasser verlassen hatte und in sein Haus eingezogen war? Vielleicht war seine Schwester der Grund, ein schüchternes Wesen, welches das Haus selten verließ und sich gerne hinter dem großen Baum im Vorgarten versteckte. Die langen Gespräche mit ihr hatten ihre Welt mit allem gefüllt, was sie brauchte. Sie schätzte sie sehr und würde sie auf keinen Fall missen wollen.
Langsam tauchte sie ihre Füße in den Bach. Das kalte Wasser umhüllte ihre Knöchel und wirbelte um ihre Zehen herum. Sofort fühlte sie sich erfrischt. Sie ließ ihren ganzen Körper ins Wasser und lag einfach da, schaute zu den Sternen, während der Bach ihren Kopf umschmeichelte.
Zuerst hörte sie sie nicht, sie war in Gedanken versunken. Erst als er ihr auf die Schulter klopfte, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. „Schnell, wir müssen uns beeilen!“ In seiner Stimme lag eine Unmittelbarkeit, eine Art Gefahr, die sie schon lange nicht mehr gehört hatte. „Sie sind auf der Jagd!“, rief er.
Sofort sprang sie auf und packte seinen Arm. Wenn sie auf der Jagd wären, würden sie hinter ihr her sein, und wenn sie die beiden zusammen sehen würden, wäre auch er in Gefahr. Als Mensch war er nicht so schnell wie sie und konnte sich auch nicht im Wasser verstecken.
Sie rannten. Leichtfüßig huschte sie zwischen den Bäumen hindurch, ihre Sinne in Alarmbereitschaft. Sie hörte sie, bevor sie sie sehen konnte. Sie waren ihrem Geruch gefolgt und führten die anderen bellend, knurrend und schnüffelnd zu sich. „Hunde!“, flüsterte sie. Doch sobald die Worte ihren Mund verließen, hörte sie schon das Tapsen von Tierpfoten im Unterholz.
Der erste Hund griff aus dem Nichts an. Es gelang ihr, dem Angreifer schnell auszuweichen, aber ihr Begleiter war nicht so glücklich. Der zweite Hund fiel seinen rechten Arm an. Er schrie vor Angst. Ohne nachzudenken schnappte sie sich einen großen Stock und versuchte den Köter wegzustoßen. Es dauerte ein bisschen, aber sie schaffte es und sobald er frei war, rannten sie los. Schneller jetzt, Hundehecheln direkt im Nacken. Sie half ihm, auf einen Baum zu klettern und sprang selbst in das Wasser des Baches daneben. Die Zeit stoppte. Es schien, als ob Stunden vergingen. Alles war still. Als sie herauskam, war es dunkel und kalt. „Karl?“, flüsterte sie. Ihre Stimme klang fremd und zerbrechlich. Keine Antwort. Lauter: „Wo bist du?“ Immer noch keine Antwort. Da erschien um sie herum ein violett-grauer Nebel. Er kam auf sie zu, wie das Gefühl der Angst und Einsamkeit, das sich in ihr aufbaute. Sie war allein. Niemand antwortete. Ihre Verfolger hatten gewonnen. Sie war alleine…
Bis sie plötzlich eine Art…Anwesenheit von jemandem spüren konnte. Sie war anders als die eines normalen Menschen. Dies war ein außergewöhnliches Wesen. Just in dem Moment traf ihr Blick jenen der Monsterjäger*in. Ein*e MonsterJäger*in der alten Zunft. Jene, die sich um die Fabelwesen der Stadt Wien kümmerte. Und sie wusste, dass sie in Sicherheit war.