Seit ewigen Zeiten hatte sie hier, an genau diesem Ort, gestanden und für den Zirkus Busch jongliert. Normalerweise begann sie ihren Abend hier draußen, an der frischen Luft und verlagerte ihren Akt erst später in das Zirkuszelt hinein. Er half dabei, die Zuschauer*innen in die Manege zu locken. Sie hatte früh, als junges Mädchen, begonnen zu jonglieren. Mit sechs konnte sie schon sechs Bälle durch die Luft manövrieren. Der Siebte wollte jedoch nicht so ganz. Sie brauchte mehrere Monate, bevor sie das Selbstbewusstsein hatte, vor Publikum damit aufzutreten. Im Alter von sieben Jahren hatte sie dann allerdings eine eigene Nummer und wurde zum kleinen Highlight des Abends.
Natürlich gab es auch Abende, wo sie frei hatte. Sie erinnerte sich zum Beispiel daran, als Max Reinhardt Sophokles’ Ödipus im Zirkus aufführte. Diese Nacht würde sie nicht so schnell vergessen. Die Show war so erfolgreich, dass er in den darauffolgenden Jahren den “Verlorenen Sohn” und Hofmannsthals Jedermann aufführen würde. Sie ging jedes Mal und jedes Mal, war sie von der Inszenierung ganz mitgerissen.
Als der Zirkus 1920 in ein Kino umgebaut wurde, wurde es auch um sie herum leise. Nicht nur hatte sie ihren Job verloren, nach dem Krieg war die Arbeitslosigkeit ohnehin weit verbreitet, sie hatte auch ihre Bestimmung verloren. Menschen zu unterhalten, war nicht nur ein Beruf für sie, es war Teil ihrer Seele.
Sie wusste viel über die Geschichte des Praters und der Venediger Au. Wie die Gegend von einer Au zu Jagdgründen, zu Gärten und dann zum Vergnügungsviertel wurde. Ein Ort in ständigem Wechsel. Er war zu einem wichtigen Ort für die Wienerinnen und Wiener geworden. Ein Ort, wo man sich vom Mühsal des täglichen Lebens erholen konnte. Das war ja schön und gut, aber sie wollte keine Tickets im Kino verkaufen, selbst wenn es das größte der Stadt war. Der Job zahlte nicht schlecht, aber sie wollte auftreten. Musste auftreten.
Sie stand an der Straßenecke, Blick in Richtung Kino und las einen Tannenzapfen vom Boden auf. Dann noch einen. Und noch einen. Bald flogen ihr die Zapfen rechts und links an den Ohren vorbei, ihren Kopf wie Planeten umkreisend. An diesem Punkt beschloss sie, ihren Job im Kino zu kündigen und fortan an dieser Straßenecke aufzutreten.
Nach Jahren, in denen sie ihren Zuseherinnen und Zusehern die Geschichte des Praters erzählt und ihre Jonglagenummer für sie aufgeführt hatte, begann sie eine Veränderung wahrzunehmen. Nach 1945 waren immer weniger Menschen an Geschichte interessiert. Sie wollten nicht an die unangenehme Wahrheit ihrer eigenen Taten erinnert werden. Und obwohl sie noch an derselben Ecke stand, um die Menschen zu unterhalten, fing sie langsam immer mehr an zu verblassen. Sie wurde Teil der Szenerie, verschmolz mit der Hausfassade hinter ihr. Ihr Grant nahm die Form einer Art grauen Versteinerung an und sie verwandelte sich in harten Stein, bewegungsunfähig, unfähig aufzutreten.
Bis sie eines Tages einen neugierigen Blick erhaschte. Ein seltsames Gefühl von Interesse, das sie nicht mehr gefühlt hatte seit jener Zeit, an der sie im Zirkus Busch aufgetreten war. Sie fühlte, wie sich ihre Arme zu lösen begannen. Aus der Versteinerung erwachten. Sofort sprangen ihre Hände in Aktion. Die vertraute, fast schon automatische Bewegung von Ball – Hand – Ball kam so natürlich, als ob sie nie damit aufgehört hätte. Die Bälle tanzten um ihren Kopf herum und sie musste grinsen. Dankend nickte sie dem neugierigen Geschöpf zu, das sie aus der Versteinerung gelöst hatte.