48°12‘25.2″N 16°21’33.4″E
48.207004, 16.359272
Der graue Schleier war den dreien schon früh aufgefallen. Zum ersten Mal war er ihnen im Februar 1934 begegnet, als sie, von drei Tüchern umhüllt, gegen den damaligen totalitären Kanzler Engelbert Dollfuß protestiert hatten. Schweigend protestiert zugegebenermaßen, aber auch lautes Schreien hätte vermutlich nichts gebracht. Die weißen, mit großen Kreuzen versehenen Tücher, waren so eng über ihre Köpfe gestülpt, dass jeder Laut, den sie von sich gegeben hätten sofort von diesen verschluckt worden wäre. Auch damals legte sich ein Schleier über sie. Ein grau-violetter Schleier welcher alle Hoffnung und alle guten Gedanken zu ersticken schien. Ein Schleier, der einen unsichtbar machte. Ein Schleier, der alles Gute verschlang.
Victor, der Älteste der dreien, hatte etwas sagen wollen. Doch weil er so stotterte, konnten ihn die anderen beiden oft nicht verstehen. Die Tücher halfen bei der Verständigung auch nicht unbedingt. Victor war außerdem der Radikalste unter den dreien. Er war 17 mal angeklagt worden und hatte insgesamt 9 Monate im Gefängnis verbracht. “Der Wilde Alte” wie ihn Ferdi und Jakob gerne nannten, war dem Grant nicht unbedingt abgeneigt. Vielleicht war es auch deswegen, dass er als Erster den grauen Nebel an all jene weitergab, die an ihm vorbeigingen. Zunächst wollten sie den Nebel ja dazu benützen den österreichischen Faschisten Einhalt zu gebieten, doch scheinbar machte er diese nur noch mächtiger. Wenn alle aufeinander mit Ablehnung reagierten, konnte doch kein gemeinsames Zusammenleben zustande kommen.
Als Bürgermeister und Theaterfreund meinte Jakob, dass man doch den Reigen aus dem Volkstheater nutzen konnte, um die Faschisten, zumindest kurzfristig, außer Gefecht zu setzen! Doch Ferdinand, der dieser Idee zwar selber, wie er sagte, nicht ganz abgeneigt war, immerhin schrieb er in seiner Freizeit auch gerne Theaterstücke, wies darauf hin, dass dies schon 1921 nicht wirklich funktioniert hatte. Im Gegenteil, die damalige Inszenierung hatte Jakob Reumann sogar eine Anklage eingebracht! Man sollte viel eher die Freimaurer beauftragen, sich aktiv am politischen Geschehen zu beteiligen, meinte Ferdinand!
Gemeinsam hatten die drei und ihre Schnurrbärte schon einiges für die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Wien getan. Victor Adler war Gründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, aus welcher später die SPÖ hervorging. Er war schon 1899 am Brünner Programm beteiligt gewesen, welches an Lösungen des Nationalitäten- und Sprachproblems in der österreichisch-ungarischen Monarchie arbeitete. Auch schaffte er es das allgemeine Wahlrecht für Männer Anfang des 20. Jahrhunderts einzuführen und war an der Entstehung der Republik beteiligt.
Ferdinand Hanusch hatte den modernen Sozialstaat gegründet und ermöglichte es somit, dass Arbeitende ein mindestmaß an sozialer Absicherung gegeben wurde.
Und auch der Dritte im Bunde, Jakob Reumann, Wiens erster “roter” Bürgermeister, war maßgeblich daran beteiligt gewesen die Stadt in Richtung soziale Gleichheit zu steuern. Er hatte zum Beispiel 25.000 Gemeindewohnungen innerhalb kurzer Zeit in Wien bauen lassen.
Die drei Männer mit ihren Schnurrbärten waren es also gewohnt, schwierige Probleme anzugehen und dort Lösungen zu finden, wo sie sich dachten, dass diese nötig seien. Victor überlegte…er hatte normalerweise immer die besten Ideen… doch es wollte ihm partout nichts einfallen. Irgendetwas musste es doch…
Auf einmal stand jemand vor ihnen. Die Person musterte jeden Kopf einzeln. Jeder Schnurrbart wurde inspiziert. Die drei Idealisten hielten inne. Wer war diese Person, die da vor ihnen stand? Sie sah stark aus und vorbereitet. Als ob sie auf Monsterjagd gehen würde. Irgendwie veränderte sich etwas. Der Nebel, vor wenigen Minuten noch grau und undurchdringlich, begann sich zu lichten. Ferdinand war der erste der entzückt aufschrie: “Jungs! Ich kann die Welt um mich herum wieder sehen!”. “Es war erstaunlich”, dachte Jakob, “90 Jahre Grant, 90 Jahre Blindheit gegenüber anderen, einfach verflogen. Und das, weil eine Person, auf eine andere zugeht…”.