Oben auf der K K Telegrafen Centrale,
in der Hand von Hermes
48°12‘50.7″N 16°21’59.6″E
48.214078, 16.366565
Er hatte schon viel erlebt in seinem Leben. Seit 1886 wachte er über diesen Platz, der ihm eigentlich ganz gut gefiel. Es gab hier viele Bäume und Sträucher. So gab es auch viele Vogelpaare, die hier ihr Kinderzimmer eingerichtet hatten.
Seitdem es in nahezu jedem Haus ein Telefon gab, kamen aber weit weniger Leute hierher als damals. Als man hier erstmals über weite Strecken mit jemand anderem sprechen konnte. Die erste Telefonleitung von Wien nach Brünn war eine Sensation und auch ein bisschen Magie und, sie befand sich in diesem Haus. Später dann konnte man auch innerhalb Wiens und in die Vorstädte “telefonieren”. Das war die Zeit seines Lebens gewesen. Er hörte die brisantesten Neuigkeiten, hörte von Tante Rosis schlechtem Bein oder Onkel Werners guten Kuchen. Oder wer sich gerade in den Kurorten frisch verliebt im Schwimmbecken tummelte.
Doch als das Telefonieren immer beliebter wurde, war plötzlich Schluss. Da nun alle ihr eigenes Telefon besaßen, war es still geworden am Börseplatz.
Eine kurze Hochphase hatte er dann noch einmal erlebt, als SIE hier Vorstand des Laboratoriums wurde. Er schaute ihr gerne zu, wie sie sich in ihrer Mittagspause in den Park setzte. Meistens hatte sie etwas von zuhause mitgebracht, hin und wieder holte sie sich aber auch am Würstelstand eine Kleinigkeit. Doch das war natürlich nicht das Aufregende an ihrem täglichen Ritual.
Sobald sie auf einer Parkbank saß, fing sie an sich Notizen zu machen, blätterte in ihren diversen Papieren oder addierte Stumm irgendwelche Zahlen. Von seinem hohen Ausblick konnte er leider nicht erkennen, was genau sie da tat. Er hätte es aber nur allzu gerne gewusst.
An einem besonders windigen Tag im April ist es dann aber passiert. Eine Windböe hatte ihn aus Hermes Händen entrissen und beförderte ihn schnurstracks in Richtung der faszinierenden Dame. Er flatterte ein-, zweimal mit den Briefecken und landete dann direkt auf ihrem Notizbuch. Warme Hände griffen nach ihm. Drehten ihn um und ein fröhliches Gesicht lächelte ihm entgegen.
Er räusperte sich verlegen und begrüßte die Frau vor ihm mit einem kurzen Nicken. Er wusste genau, wer sie war. Dies war eine einmalige Gelegenheit alles herauszufinden, was er sie schon seit Jahren fragen wollte. Und so kamen die beiden ins Gespräch.
Sie erzählte, wie sie fasziniert davon war, Maschinen das Denken beizubringen. Sie mochte es, wenn Dinge Sinn ergaben. Wenn sie die Welt mittels mathematischer Formeln in eine Ordnung bringen konnte. Eine Ordnung, die auch Maschinen verstehen konnten: Ein Satz konnte wahr oder falsch sein. Heute scheint die Sonne und ich habe einen Brief in der Hand. Das UND ist eine logische Verknüpfung zweier Aussagen, die ich mit einer einfachen Formel darstellen kann. Der Satz ist wahr, wenn beide Dinge zutreffen. Der Satz wäre falsch, wenn es zum Beispiel regnen würde, da eine der Aussagen nicht zutrifft.
Und das kann ich in einer Maschine anhand von Schaltungen ebenfalls darstellen. Der Strom fließt oder er fließt nicht. 1 oder 0. Wahr oder Falsch. So kann man dann auch mathematische Rechnungen oder Anweisungen wie Licht-an/Licht-aus mechanisch umsetzen. Faszinierend wird es dann, wenn ich komplexere Aussagen oder Rechnungen habe, und man nicht einen meterlangen Stromkreis bauen will, sondern verkürzte und elegante Abkürzungen findet.
Da schaute der Brief, was die Hansi, wie er sie von jetzt an nennen durfte, alles wusste. Eine Stunde später verabschiedeten sich die beiden und er flog wieder hinauf zu Hermes, wo er seinen Platz an der Spitze des Gebäudes hatte.
Kurz darauf sollte es das letzte Mal sein, dass er Johanna Piesch von hier oben zuzwinkern konnte. Sie verbrachte nämlich mehr und mehr Zeit in der Bibliothek der Technischen Hochschule und später arbeitete sie noch als Sozialarbeiterin, auch nach ihrem Ruhestand. Da blieb wenig Zeit, ihren neuen Freund zu besuchen. Er fühlte sich einsam und ein gewisses Gefühl, schlich sich bei ihm ein. Es kam von tief aus seinem Inneren und war schwarz wie die Nacht. Der Grant zog sein Gemüt in die tiefen Abgründe der Existenz. Er war einsam und fühlte sich alleine. Der Börseplatz wirkte ausgestorben. Keiner nahm von ihm Notiz.
Als auf einmal eine junge Frau auf ihrem Fahrrad schlitternd vor ihm zu Stehen kam. Zeynep hatte sich, auf dem Weg zum Hackerspace, vorgenommen ein paar Monster zu besuchen. Nach ihrem Gespräch mit Georgina, war klar geworden, dass es Monster der Informationstechnologie sein dürften, die gerade vom Grant befallen wurden. Allesamt verlassen von den genialen Erfinder*innen, denen sie Vertraute gewesen waren. ZeN>.<Zen wusste, wo sie weitersuchen musste.