48°14‘12.4″N 16°20’02.9″E
48.236780, 16.334130

Die Achtgeber hatten Georginas Wahrnehmung geschärft. Als sie den Türkenschanzpark betrat, hörte sie das Scharren einer Krähe, die sich auf den Wipfeln eines Nadelbaums niedergelassen hatte. Auf einer Parkbank schlief eine Frau mit gelber Wollmütze; zu ihren Füßen lag ein umgekipptes Tetra-Pack. Die Krähe war herunter geflogen und erforschte den Inhalt mit ihrem Schnabel. Georgina folgte einem schmalen Weg, an einer verlassenen Spielburg vorbei. Eine Mutter versuchte, ihr Kind davon abzuhalten, ein Pferd zu besteigen. Der Pferdebesitzer, ein Pfeife schmauchender Kosake, scherte sich kein bißchen darum.

Als Georgina das andere Ende des Parks erreicht hatte, sah sie ein Mädchen mit Kopfhörern in ihr Smartphone starren. Alle schienen viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als von dem schönen Brunnen in der Mitte Notiz zu nehmen. Georgina ließ Wasser über ihre Handgelenke laufen und begann, die goldene Inschrift über dem Becken zu lesen: „Wir schufen alles Leben aus dem Wasser“.

Hayriye hatte sie gefragt, ob sie wisse, was ein Derwisch sei. „Peinlich!“, dachte Georgina, jetzt bin ich schon so alt…“ Sie wusste was ein Wirsing ist, sie kannte Perserteppiche, und Leute, die gerne wischten, aber einen Derwisch kannte sie nicht. „Ein Derwisch ist ein freiwilliger Migrant, ein Wanderer, der sich für ein Leben in Armut entschieden hat. Yunus Emre, der türkische Dichter, nachdem der Brunnen, benannt wurde, war ein Derwisch. Als einer der Ersten hatte er auf Türkisch gedichtet und gesungen.“

Das Mädchen mit den Kopfhörern stand neben Georgina und summte vor sich hin. Erst dachte Georgina, es sei ein Lovesong, bis sie begriff, dass es sich um einen von Emres Versen handelte: „Des Freundes Wohnstatt ist das Herz – um Herzen aufzubauen kam ich.“ Das Mädchen lief die Treppe hinunter, machte ein Foto vom Brunnen und verschickte es mit einem lauten Zisch. Vielleicht war es gar nicht allein, sondern mit jemandem zusammen, der sich bloß nicht an diesem Ort befand. Zu gerne hätte Georgina gewusst, wer das Foto empfangen hatte, wie viele Freunde das Mädchen hatte, auf Facebook, in Wien oder irgendwo. Und was ‚Freund‘ für sie bedeutete. Georgina hielt nun nur noch eine Karte in der Hand.