48°12‘35.7″N 16°22’58.5″E
48.209926, 16.382903

Hoch oben saß Es und beobachtete. Hundert Jahre hatte Es beobachtet. Beobachtet wie die Menschen von einem Ort zum anderen hetzten. Wie sie stritten und zankten. Es war immer der Beschützer gewesen. Beschützer aller Völker. Beschützer der Ordnung. Beschützer des Reiches. Beschützer des Kriegsministeriums, auf dem Es thronte. Wilhelm Hejda hatte Es aus Bronze gegossen. Als Krönungs- und Wappentier. 15 Meter Spannbreite und 40 Tonnen schwer. Man hatte extra eine Spezialbefestigung bauen müssen, damit es die Ringstraße überschauen konnte. Ein Raubvogel, der gegen die Völker der Monarchie zieht, hatte schon der Schriftsteller Reinhold Schneider gesagt. Im Wiener Arsenal geboren und am Ring zur Wache platziert.

Doch was beschützte Es jetzt? Die Ringstraße? Jener Kreis, welcher die Innere Stadt vor den Menschenmassen der äußeren Bezirke beschützte? Es hatte den Zufluss der Menschen mitbekommen, als sie von einigen wenigen Fuhrwerken und Pferden zu regelrechten Autolawinen wurden, welche durch die Stadt flossen. Ein steter Fluss an Bewegung. Die Adern der Stadt, pulsierend, lebendig. Von hier oben hatte man den besten Überblick. Ein sicherer Platz, von dem aus man dem Fluss folgen konnte. Ihn vergiften konnte. Ein Grant, geboren aus den Wunden des Krieges und des Gefühls der Überflüssigkeit. Und das grantige Gift, in den Adern der Stadt, getragen zu den äußersten Teilen dieses Lebewesens, wirkte. Die Wienerinnen und Wiener wurden grantig. Eingelullt von einer grau-violetten Wolke, legte sich ein Schleier auf ihre Augen. Das doppelköpfige Biest nährte den Fluss des Grauens und wurde stärker und stärker.

1912, als man Es geschaffen hatte, um über das Kriegsministerium der k. u. k. Monarchie zu wachen, war die Welt eine andere. Es besaß eine Krone und auch den dazugehörigen Stolz. Das Gebäude war als großer Radiosender gebaut worden, um die kaiserlich-königlichen Regimente über Radios miteinander zu verbinden. Es hatte eine zerstörerische Aufgabe, aber auch eine Verbindende. Die Monarchie, und der Adler als Beschützer, hatten einen Stellenwert in der Gesellschaft. Doch dies veränderte sich zunehmend. Der Krieg hatte Wunden hinterlassen und seine  Teilnehmer, die Generäle, das Militär und die Monarchie, waren nicht mehr gern gesehen. Der Grant, den Es verspürte machte Es stärker. Es fühlte, dass es wieder an Bedeutung gewann. Ein dunkles Tier, genährt durch den Grant der Menschen. Ein Schatten, welcher die Sonne verdunkelte. Bedrückend und kontrollierend. Vier Augen, welche die Bürgerinnen und Bürger Wiens überwachten.

Bis, eines Tages, jemand aus dem Strom der Massen unter ihm, zurückblickte. Zuerst bemerkte das Biest die kleine Person gar nicht, so sehr ging sie im Fluss der Menschenmassen des Tages unter. Doch nach einiger Zeit, erspähte der große Adler die kleine Figur. Ein Mensch. Weit unten. Auf Es deutend. Ohne Angst. Ohne Grant…

Und schon geschah etwas mit ihm. Es fühlte sich ähnlich an, wie damals, als man ihm die Krone weggenommen hatte, und doch war es anders. Eine Art Schwere hob sich von seinem Herzen. Das war gleich. Seine beiden Köpfe wurden klarer. Das war neu. Der Schleier war gelichtet. Definitiv neu. Der Nebel hob sich und löste sich in Luft auf und das bedrückende Gefühl war hinfort gehoben. Was für ein gutes Gefühl! Der doppelköpfige Adler blickte hinab auf die Ringstraße und dachte sich: endlich, endlich bin ich befreit von der Schwere und diesem Grant!